Im Land der aufgehenden Sonne
05. – 21. Oktober 2019
Japan ist ein einzigartiger Ort, voll traditioneller Kultur, mit spektakulären Landschaften, dynamischen Städten und faszinierender Küche. Japan ist aber auch seltsam: in Japan wird pro Jahr mehr Papier für Comics als für Klopapier benötigt und sollte sich ein Lebensmüder vor einen Zug werfen, müssen die Hinterbliebenen eine horrende Strafe für die dadurch entstandene Verspätung („disruption fee“) zahlen….
Um besser zu verstehen, was da auf uns zu kommt und warum „Katzen zu Stationsvorstehern ernannte werden“ können oder die Mafia „offizielle Niederlassungen hat, die sogar im Telefonbuch stehen“, lesen wir auf dem 11-stündigen Flug von Deutschland nach Japan das ebenso amüsante wir lehrreiche Büchlein „Japan für die Hosentasche – was Reiseführer verschweigen“ (Francoise Huber, Fischer TaschenBibliothek). Einige Fragen bleiben aber dennoch offen: bestellen die Japaner wirklich ihr Essen am Automaten? Gibt es in Japan tatsächlich täglich 1.000 Erdbeben? Schlafen die Japaner echt im Stehen? Und ist Shinakansen-Fahren wirklich so beeindruckend? Was wir definitiv schon vor der Ankunft wissen: Japan wird für uns fremd, speziell und sicherlich oft unbegreiflich sein, aber ebenso faszinierend, beeindruckend und bezaubernd.
Japan stand schon lange auf unser „Da-wollen-wir-unbedingt-mal-hin“-Liste. Noch vor gut 10 Jahren gab es so gut wie keine Reiseführer, vor 20 Jahren war man vor Ort schon rein sprachlich regelrecht verloren und schon eine simple Fahrt mit der U-Bahn in Tokio gestaltete sich als echte Herausforderung. Ständig musste man in dieser die kunstvollen Schriftzeichen auf dem Plan mit denen in den Stationen vergleichen und kaum hatte man das endlich geschafft, war man schon 8 Stationen weiter…. Das hat sich inzwischen drastisch geändert, alles ist fast überall zweisprachig (japanisch und englisch) beschriftet und oft findet sich jemand, der verloren gegangen „Langnasen“ weiter hilft.
Da die bürokratischen Hürden, ein in Deutschland zugelassenes Fahrzeug temporär (Carnet des Passages) nach Japan zu bringen, enorm sind, und, wie wir später vor Ort feststellen werden, Japan nicht unbedingt das beste Land der Welt ist, um es mit einem Expeditionsmobil zu bereisen, haben wir uns für eine Flugreise entschieden. Ok, wir hätten auch mit der Trambahn zum Bahnhof, über Berlin mit der Bahn nach Moskau und weiter mit der Trans-Sib nach Vladivostok und rüber nach Japan mit der Fähre reisen können, aber das ist ein gesondertes Abenteuer. Diesmal wählen wir den bequemen Weg.
Ganz klassisch starten wir unsere Rundreise in Japans Hauptstadt, der Mega-Metropole Tokio. Der erste Eindruck: erstaunlich unexotisch. Was uns aber sofort auffällt ist, dass Verdursten in Japan gänzlich unmöglich ist, an jeder Ecke stehen grell beleuchtet Getränkeautomaten. Und alles ist enorm geordnet, auf den Bürgersteigen gibt es immer wieder Mittellinien, die Strassen sind mit bunten Pfeilen für einen reibungslosen Verkehr bedruckt und fast alles ist verboten: „no eating while walking“, „no drinking while walking“ und, klar, „no smoking while waking“.Auch das korrekte Entsorgen von Klopapier wird dem Benutzer detailliert erläutert…
Es geht ruhig, gesittet und irgendwie unemotional zu in und auf den Straßen dieser riesigen Metropole. Knapp 39 Millionen Menschen leben in Tokio und dem angrenzenden Großraum. Nur, wo sind die alle? Es heißt, Tokio gleiche einem Ameisenhaufen, die Strassen seien immer verstopft – auf uns wirkt es nicht ganz so extrem. Ok, zur Rush-hour drängen sich gefühlt wirklich alle 39 Millionen Einwohner in die U-Bahnen. Dicht an dicht – in einer Sardinendose herrscht im Vergleich die große Freiheit. Kein Drängeln, kein Schupsen, kein Schimpfen. Es herrscht Schweigen, die meisten starren auf Ihre Smartphones, lesen ein Manga (das typische japanische Comic), klappen lautlos die daheim im Origami-Stil vorgefaltete Tageszeitung um (für Blättern im klassischen Sinn ist hier definitiv keinen Platz) oder: man schläft. Ja, auch im Stehen. Klar, Umfallen geht ja auch nicht.
Es gibt einige schöne Aussichtspunkte, von denen wir die enormen Ausmaße Tokios erahnen können – die Stadt reicht bis und über den Horizont hinaus. Die vielen verschiedenen Stadtviertel, für die Tokio bekannt ist, wirken wie gänzlich unterschiedliche Städte, immer wieder durchzogen von fein herausgeputzten Shopping-Straßen mit hyper-moderner Architektur. Doch es locken auch die vielen kleinen Gassen, in denen traditionelles Handwerk weiter gelebt wird. Es gibt Stadtviertel für die Jugend mit Hello-Kitty-Shops und bizarren Klamotten, andere für Elektronik- oder Retro-Fans. Dazwischen buddhistische Tempel und shintoistische Schreine, einzigartige raum-ökonimische Kapselhäuser, ein beeindruckender Fischmarkt und Essensmöglichkeiten, soweit das Auge reicht!
Die enorme Anzahl und Dichte an Restaurants lässt uns fragen: haben Japaner daheim überhaupt Küchen? Die Restaurants sind voll, fast rund um die Uhr. Das Angebot ist gigantisch, für jeden Geldbeutel und für jeden Geschmack – sofern man japanisches Essen liebt. Westliche kulinarische Einflüsse gibt es wenige, mal abgesehen von Starbucks und MacDonalds. Nach Tagen voller Sushi, Reis und Soba würden wir eine Pizza meilenweit laufen.
Man muss vielleicht anmerken, dass die japanische Küche wirklich einzigartig ist: hier wird alles, wirklich alles gegessen: gegrillte Spatzen am Spieß, rohe Seeigel mit einem Spritzer Soja-Sauce oder mit Wachteleier gefüllte Baby-Oktopusse. Wer damit klar kommt, manchmal nicht zu wissen, was er isst, hat viele Vorteile und ist im definitiv im Schlaraffenland angekommen.
Rein optisch ist fast jedes Gericht ein wahres Gedicht: ein filigranes Kunstwerk aus Farben und Formen, perfekt in Szene gesetzt auf wunderschönem Porzellan. Manch ein solches Kunstwerk möchte man ungern zerstören – gut für denjenigen, den eine Japanreise kulinarisch durchaus an seine Grenzen bringen kann; er kann länger gucken, aber auch weniger essen…
Der wirkliche Klassiker der japanischen Küche scheint uns, nicht wie angenommen Sushi, sondern Soba-Nudeln aus Buchweizen zu sein. Und klar, in Sojasauce oder Brühe, warm oder kalt. Die glitschigen Dinger mit aalglatten Plastikstäbchen aus dem Napf in den Mund zu lupfen ist durchaus eine kleine Herausforderung für sich, man sollte nie zu hungrig Soba-Nudeln essen gehen, der Verzehr kann dauern. Wir lernen zudem die unterschiedlichen Geschmacksrichtungen von Grüntee kennen (und da gibt es gewaltige Unterschiede), können uns nicht entscheiden, ob Sake nun schmeckt oder nicht und hätten gerne mehr japanischen Rotwein gekostet.
Besonders aufregend und spannend finden wir, Essen aus Automaten zu bestellen – aber nicht nur Suppen, Grüntee, Wasser und undefinirbare Softdrinks, auch frisch gebrühten Kaffee (mit Monitor in dem Automaten, auf dem wirklich live des Mahlen, das Brühen und das Gießen in den Pappbecher abläuft) oder die berühmten Bento-Boxen.
Unsere Reise führt weiter, raus aus der Metropole Richtung Küste und später ins bergige Landesinnere. Wir schlafen eine Nacht zu Füßen des Vulkans Fuji, mit 3.776 Metern höchster Berg Japans. Sein Gipfel liegt zu dieser Jahreszeit leider nicht mehr bzw. noch nicht unter der berühmten „Schneemütze“, schön und beeindruckend ist sein Anblick mit seiner fast perfekte Kegelform allemal.
Die Fahrt durch die Alpen auf kurvenreichen Straßen durch dichten Regenwald ist malerisch, hier und da dampft es aus dem Boden – Zeichen dafür, wie gewaltig es „brodelt“ unter der Erde. 1.000 Erdbeben pro Tag können wir nicht ausmachen, wobei die meisten davon zwar mess- aber nicht spürbar sind. Einmal jedoch, während der letzten Nacht in Tokio, wackelt es zweimal so arg, dass wir davon aufwachen.
Wir machen Halt in Takayama mit seinen schönen alten Holzhäusern im typisch japanischen Stil. Die Kleinstadt ist symphatisch, überschaubar und auf eine noch nicht zu aufdringlich Art touristisch. Wir sind zur rechten Zeit am rechten Ort, denn an der Küste braut sich Schlimmes zusammen: Taifun „Hagibis“ ist auf dem besten Weg, an Land zu treffen, es wird einer der stärksten Taifune seit Jahrzehnten werden. Wir sind hier in Sicherheit, außer Regen und Wind bleiben wir verschont. Als am nächsten Tag die Züge wieder planmäßig fahren, geht es für uns weiter. Die Nachrichten zeigen, was „Hagibis“ angerichtet hat und uns wird wohl nur annähernd bewusst, welch ständigen Naturgewalten Japan ausgesetzt ist. Umso beeindruckender ist es, wie Japan damit lebt und umgeht, sei es die erdbebensichere Bauweise oder die funktionierenden Notfallmaßnahmen.
Der Wind hat die Wolken weggepustet und auch wenn sich die erhoffte Herbstlaubfärbung leider partout nicht zeigen will, so zeigen sich wenigstens immer mal wieder ein paar Sonnenstrahlen. Wir sind in Kyoto und es gefällt uns. Der Charme, der Tokio fehlt, hat Kyoto umso mehr. Kyoto ist das japanische Florenz, war es doch über 1.000 Jahre Sitz des Kaisers und der Shogune und somit politisches und kulturelles Zentrum des Landes. Und ähnlich wie in Florenz brummt hier der Bär im Kettenhemd, die Schlangen vor den Sehenswürdigkeiten sind lang – aber japanisch-typisch geordnet und sortiert.
Die Anlagen der Tempel sind alle irgendwie ähnlich und doch auch wieder unterschiedlich, die jahrhundertlange Isolation des Landes hat zu wenig kulturellen und architektonischen Austausch mit fremden Kulturen geführt. Im Gegenteil, hier hat sich eine einzigartig japanische Kulturoase gebildet, die in ihrer Art einzigartig ist. Ob groß oder klein, alt oder neu, in Kyoto gibt es immer viel zu entdecken. Besonders aber faszinieren uns die japanischen Gärten und wir können uns kaum sattsehen: agenhaft, wie es die Gartemeister schaffen, die Natur in ihrem Sinne wachsen zu lassen.
Abends stürzen wir uns ins Getümmel – am Bahnhof. Kyoto Station ist allein schon wegen seiner herausragenden Architektur eine Sehenswürdigkeit für sich. Ganz anders als bei uns ist ein Bahnhof in Japan nicht ein eher ungeliebter und oft vernachlässigter Ort, nein, in Japan sind Bahnhöfe das Epizentrum der Stadt, hier spielt die Musik. Der Bahnhof ist Bahnhof und zugleich Unterhaltungszentrum. Beeindruckend ist die gigantische Anzahl an Restaurants. Hier ist viel los, die Warteschlangen sind lang, aber eine Stuhlreihe vor dem Lokal macht das Warten bequemer, außerdem werden bereits hier Speisekarten verteilt und Bestellungen aufgenommen, damit es nachher schneller geht, wenn ein Platz frei geworden ist. Langes Sitzen nach dem Essen ist hier unüblich und bringt das gesamte System durcheinander, wie wir wiederholt feststellen durften. Effizienz wird in Japan auch bei der Nahrungsaufnahme groß geschrieben – nix mit Hygge oder italienischer Gemütlichkeit: Essen und weiter!
Auch im Zugverkehr herrscht eine Effizienz, wie sie sich Bahnreisende in Deutschland nicht mal annähernd vorstellen können. Die Züge sind blitzeblank sauber, Sitzplatzreservierungen funktionieren, die Schaffner sind freundlich und hilfsbereit und allen voran: die Züge sind pünktlich. Hat ein Zug mal Verspätung und ist dies mehr als 59 Sekunden (!!! – kein Tippfehler) muss sich der Zugführer schriftlich bei der Bahngesellschaft rechtfertigen und lag nicht gerade ein Komet auf den Schienen, passiert das auch nicht. Doch schon das Einsteigen ist ein Erlebnis an sich: Züge sind immer gleich lang, pro Wagon gibt es zwei Zugangskorridore, in denen man sich gemäß Platznummer in Reih und Glied anzustellen hat. Hält der Zug, geht dann alles ratzfatz und keine 120 Sekunden später rollt der Shinkansen weiter. Unglaublich.
In Hochgeschwindigkeit düsen wir weiter gen Osten, natürlich nicht ohne die obligatorische Bento-Box unter dem Arm. Die japanische Brotzeit-Kiste gehört zu Japan wie Sushi und Sojasauce und – in den Shinkansen. Nur hier darf auch gegessen werden, vornehmlich aus Bento-Boxen. Die Auswahl in den Bahnhöfen ist riesig und überfordert durchaus so machen Touristen.
Ein paar Zwischenstopps später erreichen wir Hiroshima. Sicherlich sind während des Zweiten Weltkrieges weltweit viele Städte zerstört worden, aber wohl keine andere Stadt steht derart symbolisch für den Wahnsinn von Krieg und Bomben, an wenigen Orten ist das Gedenken an die Opfer und die Zerstörung noch heute präsenter als hier. Am 6. August 1945 um 8:45 explodierte die Uranbombe mit dem zynischen Namen „Little Boy“ ca. 600 Meter über dem Stadtzentrum in der Luft. Die unheimliche Sprengkraft von rund 20.000 Tonnen TNT zerstörte die Stadt, vornehmlich aus Holzhäusern bestehend, sofort. Innerhalb einer (!!!!) Sekunde starben augenblicklich 80.000 Menschen in der über 2.000°C heißen Detonationswelle. Noch drei Tage danach brannte die Stadt, in den nächsten Monaten starben noch einmal 130.000 Menschen einen qualvollen, durch die Radioaktivität verursachten Tod. Schrecklich, unglaublich, das Leid kaum zu begreifen.
Kaum zu glauben, dass nach einem darartigen Desaster Hiroshima heute eine der lebenswertesten, grünsten und freundlichsten Städte Japans ist. An allen Ecken Cafés, junge Menschen eilen umher, die Stadt strotzt nur so vor Leben.
Im Zentrum der Stadt, rund um das Hypozentrum, dem Punkt, über dem die Bombe explodierte, ist heute der berühmte Friedenspark, in dessen Zentrum ein Tor über einen Wasserbecken an die Opfer erinnert. Das sicherlich beeindruckendste „Denkmal“ ist aber der so genannte Atombomben-Dom, ein Gerippe aus Stahl, Beton und Stein, dass, obwohl fast am Hypozentrum stehend, als Ruine das Inferno überstand. Der Anblick macht ängstlich, demütig und traurig – ein Mahnmal für die Schreckenstaten, zu denen der Mensch fähig sein kann.
Überall im Park finden sich zahlreiche weitere Denkmäler. Unter den zahlreichen ragt das Kinderdenkmal heraus. Es erinnert an das kleine Mädchen Sadako Sasaki: wie durch ein Wunder überlebte die damals zweijährige Sadako den Bombenabwurf, erkrankte aber im Alter von 11 Jahren an Leukämie und starb wenig später leidvoll daran. Nach der niederschmetternden Diagnose beschloss die kleine Sadako, 1.000 Papierkraniche zu falten. In Japan symbolisiert der Kranich Glück und ein langes Leben. Sadako war felsenfest davon überzeugt, gesund zu werden, würde sie das Ziel nur erreichen. Sie starb vorher, ihr Wunsch wurde nicht wahr. Ihre Klassenkameraden aber falteten weiter. Und weiter. Und weiter. Immer weiter.
Sadako wurde zum Symbol und Vorkämpfer für den friedlichen Kampf gegen Krieg und Zerstörung, die Kraniche zum weltweiten Symbol für Weltfrieden und Widerstand gegen die Atombombe.
Auch wir falten einen Papier-Kranich (was übrigens einfacher klingt, als es ist) und lassen ihn „fliegen“. Die Welt ist so schön, so bunt, so einzigartig – wir sollten uns das öfter mal vor Augen führen und Mauern und Grenzen einreisen, statt neu zu bauen.
Ein nachdenkliches Ende einer tollen und spannenden Reise ins Land der aufgehenden Sonne. In diesem Sinne: make love, not war!