Along the west

Lake to sea!

07.08.2008 – 31.08.2008

KANADA/USA: DIE WESTKÜSTE, TEIL 1

Lake Louise. Da sind wir wieder. Die vierte und letzte Etappe von Anchorage hierher hatte es in sich: 1.300 km, 16 Stunden und um einige Nerven ärmer. Die letzten 250 km über den legendären und enorm kurvenreichen Parkfield Iceway haben wir in absoluter Dunkelheit zurückgelegt. Das ist eher eine Sportwagenstrecke, aber nichts für Laster. Kein Zuckerschlecken.

Lake Louise reloaded

Dem treuen und aufmerksamen Leser ist sicher bewusst, dass es über Lake Louise bereits ein Kapitel (siehe auch Kapitel über Lake Louise) gibt. Nun gut, das letzte Mal waren wir im Winter hier und man könnte meinen, es habe sich nicht viel geändert. Irrtum. Einer Völkerwanderung gleich reihen sich die Wohnmobile auf den umliegenden Straßen aneinander. Es wirkt wie ein Superstau von Doppelhaushälften. Und wir mittendrin. Unser Knut wirkt im Vergleich zu den teilweise 25 – 30 m langen Schlachtschiffen der Landstraße eher wie ein technisches Begleitfahrzeug. Im Sommer gibt es Parkplätze an Stellen, an denen es im Winter nicht einmal den geringsten Anschein erweckte, dass dort etwas anderes außer vom Schnee malerisch bedeckte Wildnis sein könnte. Der schon im Winter nicht gerade kleine Parkplatz direkt am Lake Louise wurde in seiner Kapazität vergrößert. Nicht verdoppelt, nicht verdreifacht, nein eher verfünffacht. Über mehrere „Etagen“ in den Berg gebaut, parkt man nun. Idylle auf nordamerikanisch. Dachten wir bisher immer, die Definition von voll sei der Parkplatz von Schloss Neuschwanstein im schönen Allgäu an einem herrlichen Sommertag, wurden wir hier eines Besseren belehrt. Einer unsere Reiseführer stellt den Lake Louise als den am meisten besuchten Bergsee der Welt vor. Langsam glauben wir dies.

Einmal hörten wir folgende Bekanntmachung einer amerikanischen Reiseleiterin: „Breakfast should be taken by 7 am as the bus leaves at 7.30 am. Sharp. We than drive up to Lake Louise, where you will have 10 minutes (??) to admire the beauty of the lake before the bus will bring you to Lake Morraine (weiterer, sehr schöner See in der Nähe). At Lake Morraine you will have considerably more time to enjoy the beauty: we will stop there for 15 minutes…..“ So muss Reisen doch richtig Spaß machen, und wir sind kurz verlockt, unser Auto zu verkaufen und uns dieser stramm organisierten und scheinbar sehr disziplinierten Reisegruppe anzuschließen. Dann käme man wenigstens vorwärts…..

Auch sind wir immer wieder fasziniert von der Taktik des Fotografierens solch Reisender. So steht die gesamte Reisegruppe gelangweilt in der Gegend rum, lauscht den Erläuterungen der Reiseleitung, und kaum sagt diese etwas in der Art wie „this is an exceptional view on the ….“ werden die Fotoapparate, die bis dahin bequem auf dem mühselig aus dem klimatisierten Bus gewuchteten Bauch schlummerten, gezückt. Nicht wissend, was gerade vor der Linse auftaucht, egal, es wird wild darauf los fotografiert, und man fragt sich, ob diese Menschen daheim überhaupt noch wissen, wann und wo das Foto gemacht wurde, geschweige denn, was es zeigt.

Wir wollen an dieser Stelle nicht diese Art des Reisens verurteilen. Wir finden jedoch, dass man das eine oder andere auch mal kritisch betrachten sollte und, mit ein wenig gesundem Zynismus versehen, auch durch die Mangel nehmen darf. Wir sind uns durchaus bewusst, dass Busreisen auch Vorteile haben können: ist eine Sehenswürdigkeit abgehakt, sind alle wieder an Bord und „ready to go“, macht sich eine Kolonne von Bussen auf den Weg. Wo der Vorteil ist? Als Nicht-Busreisender steht man nun an der Kreuzung, ein ganzer Konvoi von Bussen mit „eingebauter“ Vorfahrt naht und passiert die Kreuzung. Sind das mal ein paar Busse, so etwa 20, wartet man schon seine Zeit. Diese nutzen wir dann stets zur mentalen Kontemplation und sind uns bewusst, wie schön es ist, so individuell und vogelfrei reisen zu können, wie wir es tun. Wir empfinden unsere Art des Reisens in diesen Momenten besonders privilegiert und sind uns fast sicher, dass die zahlreichen Businsassen das gleiche Gefühl haben – nur eben auf der anderen Seite. Jede Medaille hat zwei Seiten.

Zurück zum Wesentlichen. Wir unternehmen einige Ausflüge in der näheren und weiteren Umgebung. Ganz langsam kehrt ein Gefühl der Ruhe und Entspannung ein. Irgendwie ist es komisch. Wir sind im Urlaub und machen Urlaub, in der Art Urlaub vom Urlaub. Zwischen Halifax (Abfahrt Mitte April) und Lake Louise haben wir stolze 27.000 km zurückgelegt. So schön es auch war, es schlaucht. So viele Kilometer in so kurzer Zeit. Wir bleiben noch ein paar Tage in Lake Louise, entspannen, gehen viel spazieren und tanken teilweise sogar ein bisschen Sonne. Die Augenringe werden kleiner, verschwinden. Ganz langsam bekommen sie wieder Glanz und Schärfe. Bereit für Neues.

Kelowna und das Okanagan Valley

Von Lake Louise nach Vancouver sind es „kurze“ 780 km, ein Katzensprung. Der Plan ist, die Strecke in zwei Tagen zurückzulegen. In Kelowna hätten wir eigentlich eine Pause machen wollen, aber der Ruf der Stadt liegt uns in den Ohren, und wir können es kam erwarten, wieder in eine Großstadt zu kommen. Der Weg dorthin ist jedoch so schön, dass er durchaus ein paar Worte wert ist. Kelowna, abgeleitet von einem Wort der Ureinwohner, bedeutet so viel wie „weiblicher Grizzlybär“. Woher das kommt, weiß heute leider niemand mehr so genau; vielleicht gab es hier ja mal eine nette und attraktive weibliche Bärengemeinde, sozusagen das Eldorado für alle Männer-Bären in den ganz Rockies. Ist aber nur eine (gewagte) These unsererseits. Das Kelowna von heute ist eine der aufstrebendsten und am schnellsten wachsenden Städte Nordamerikas. 1906 wohnten hier gerade mal 600 Menschen, 2007 waren es schon 107.000. Inklusive aller Vororte sind es sogar fast 170.000. Dies spiegelt sich natürlich in den Immobilenpreisen wider: die Stadt liegt auf dem sagenhaften 13ten Platz der teuersten Immobilenstandorte weltweit. Hätte einer von uns diese Liste vor zwei Jahren gesehen, wir hätten nicht einmal gewusst, wo dieser Ort überhaupt liegt. Reisen bildet eben doch.

Woher kommt diese enorme Entwicklung? Das Kelowna umgebende Land ist eines der besten Weinanbaugebiete Kanadas (nun gut, es gibt auch nur zwei), aber inzwischen sind die Weine aus dem Okanagan-Valley weltweit hoch angesehen. Von vielen Weinkennern wird die Region als das nächste Kalifornien bezeichnet. Und dass die Weine gut sind, können wir besten Wissens und Gewissens bestätigen, besonders die Pinot Noirs. Auch ist das Okanagan-Valley ein wichtiges Anbaugebiet für Obst und Gemüse. Für uns ist das von besonderer Freude, bekommen wir doch nach Wochen lommeliger Gurken und halblebigem Obstes endlich mal wieder etwas richtig Frisches und Knackiges. Herrlich.

Besonders faszinierend an dieser Gegend sind die Gegensätze. Nachdem man von den Rocky Mountains kommend durch tiefe Täler, dicht bewaldete und eher kühle Regionen gefahren ist, ändert sich das Bild mit der Einfahrt in das Okanagan Valley schlagartig. Die Landschaft wirkt südeuropäisch, trocken. Das Gras links und rechts der Straße ist braun, weitläufige Felder dank intensiver Bewässerung jedoch herrlich grün. Die Berge sind nun eher Hügel, runder, nicht mehr alpin. Die Temperaturen steigen, und man kann im T-Shirt sein, ohne Frostbeulen davonzutragen. Das Tal ist in weiter Entfernung immer noch von hohen Bergen umgeben, die das kalte und feuchte pazifische Wetter zurückhalten. Wolken und schlechtes Wetter entladen sich dann über Vancouver und Vancouver Island. Die Okanagan Region wirkt ein bisschen wie eine Oase des guten Wetters in einem Land, das nicht gerade mit mediterranem Klima gesegnet ist.

Vancouvers Großstadtdschungel

Gegen Abend erreichen wir Vancouver. Die erste wirkliche Großstadt seit Toronto. Schon von weitem ist die Skyline mit ihren verglasten und modernen Türmen zu sehen. Ja, wir haben die Einsamkeit Kanadas gesucht (und auch gefunden), aber jetzt tut es so gut, wieder „Zivilisation“ zu erleben. Über hohe Brücken geht es in die Häuserschluchten Vancouvers. Seit langem müssen wir bei der Suche nach einer Adresse mal wieder aufpassen und in den Stadtplan schauen. Nicht einfach von der Main Street die richtige Seitenstraße finden, abbiegen – fertig.

Die Stadt hat uns wieder. So viele Menschen wie in Vancouver haben wir in der gesamten Zeit zwischen Toronto und hier zusammen nicht gesehen. Ameisen gleich wuseln die Menschen durch die Straßen, verschwinden in Hochhäusern, sausen mit Aufzügen in die Höhe, flanieren durch Passagen und Parks, holen sich einen Coffee to go, winken verzweifelt nach Taxis, sammeln den Sch… ihrer Hunde ein, um ihn sachgemäß zu entsorgen, joggen am Meer entlang, sitzen schnatternd und lachend in Cafés, werden ins Handy quatschend fast überfahren, warten Zeitung lesend auf den Bus, versuchen noch rechtzeitig zu einem wichtigen Meeting zu kommen….. einfach Stadt. Einfach herrlich. Einfach Großstadtdschungel.

Yaletown, früher Lagerhäuser, ist heute angesagtes In-Viertel mit unzähligen Restaurants, Cadés und Läden. Downtown mit seinen Hochhäusern, Diners, Museen und Büros ist der absolute Mittelpunkt dieser pulsierenden Stadt. Stanley Park, größer als der Central Park, ist die grüne Lunge der Stadt, Erholungsgebiet, gezähmte Wildnis und herrlich zum Erkunden. Granville Island, gegenüber der Downtown, bequem mit dem Aquabus (Wasserlinienbustaxi) zu erreichen, ist im Gegensatz zur glitzernden Downtown eher beschaulich; der sagenhafte Grenville Market bietet jedoch alles, was das Herz begehrt: frisches Obst, Gemüse, Fleisch, Fisch, Meeresfrüchte, Brot, Käse, Schinken. Nach Monaten des abgepackten Käses oder Schinkens, einem enormen Lebensmittelskandal (mit sogar einigen – inzwischen über 20 – Todesopfern!) ist dies für uns das Schlaraffenland schlechthin.

Vancouver mit seinen knapp 600.000 Einwohnern ist Kanadas Tor zum Pazifik. Die Stadt ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt von Süd nach Nord und Ost nach West. Auch unzählige Kreuzfahrtschiffe auf dem Weg nach Alaska über die sagenhafte Inside-Passage machen hier noch einmal Halt. Auch liegt nun Asien näher als Europa. Uns dies in Erinnerung rufend fühlen wir, dass es nun schon ein ganzes Stück ist, das wir zurückgelegt und München hinter uns gelassen haben.

In Vancouver gibt es viel anzusehen. Nach Wochen und Abermillionen von Nordtannen schauen wir wirklich fast alles an, was der Reiseführer hergibt. Besuchen die (etwas enttäuschende, aber wenigstens ohne Totempfähle) Vancouver Art Gallery, besichtigen den Robson Square mit seinen Straßenkünstlern, Läden und unendlichen Restaurants, auch ein Chinatown gibt es (Hühnerfüße im Schaufenster inklusive) und natürlich das Aquarium.

Diese Stadt begeistert uns. Die Einwohner können eine Lebensqualität genießen, wie man sie sicher nur selten findet. Keine 90 Min außerhalb liegt Whistler, im Sommer herrlich zum Wandern, im Winter eines der besten Skigebiete Nordamerikas. Hier ist es auch, wo ein Großteil der Olympischen Winterspiele 2010 (Vancouver 2010) stattfinden wird. Nur an der Straße dorthin müssen sie noch ein bisschen bauen; die ist momentan eher in einem erbärmlichen Zustand. Direkt vor der Tür liegt der Pazifik, in den verschiedenen Marinas liegt vom kleinen Kanu bis zur Superjacht alles, was des Wassersportlers Herz begehrt. Es gibt neben dem riesigen Stanley-Park noch zahlreiche kleinere Parks; ideal zum Joggen oder einfach mal zum in die Sonne Legen (wenn sie den scheint).

Es ist nicht schwer, sich von dieser Lässigkeit und Lebensfreude anstecken zu lassen. Oft machen wir Pause, kaufen eine Zeitung, setzen uns in ein nettes Café und lassen es uns einfach gut gehen.

Der letzte Tag in Kanada steht vor der Tür. Die gesamte Zeit in diesem riesigen Land des Nordens hatten wir mehr Pech als Glück mit dem Wetter. Überall hieß es, es sei der schlechteste Sommer seit 1928, 1871, 1901 oder sonst irgendwann. Wahr ist, dass es in diesem Sommer 2008 in Kanada so viel wie schon seit ewigen Zeiten nicht mehr geregnet hat, dass es überdurchschnittlich kalt war (teils bis zu 10°C unter dem Jahrhundertdurchschnitt, was bei einer Durchschnittstemperatur von beispielsweise 23°C in Vancouver eher dramatisch ist). Alle hoffen, dass es 2009 besser wird. Uns kann das eigentlich egal sein, wir waren 2008 da und sind froh, unsere langen Unterhosen dabei gehabt zu haben. Unser letzter Tag in Kanada ist dann auch eine repräsentative Zusammenfassung aller schlechten Wetter, die wir erleben durften: es schüttet aus Kübeln, der Wind drückt den Regen in die letzte noch trockene Pore, es ist saukalt und einfach eklig. Es gibt viele Gründe nach Kanada zu kommen, aber bestimmt nicht des Wetters wegen. Kanada, wir lieben dich.

„Kampf“ der Camper an der Grenze

Die Distanz zwischen Vancouver und Seattle beträgt läppische 270 km, aber es sind zwei Welten. Zwei Welten, getrennt durch die amerikanisch-kanadische Grenze. Hier stehen wir dann auch sagenhafte drei Stunden im Stau. Wie es sich gehört, haben wir uns auch brav und artig hinten in der langen Autoschlange angestellt. Ein paar Superschlauberger fahren auf dem Pannenstreifen bis ganz vor und quetschen sich rein. Normalerweise machen wir das ja auch so, aber an der Grenze sind wir halt ausnahmsweise mal artig und verhalten uns regelkonform.

Nicht so ein, nennen wir ihn mal Camper Joe samt Camper Judy. Mit ihrer fahrbaren Kommandozentrale des schlechten Geschmackes und ihren sinnigen Aufdrucken sind die Dinger, also diese Ungetüme von Wohnmobilen, eher ein Statement von Größenwahn als Sehnsucht nach Abenteuer: „Desert Adventurer“ bei einer Bodenfreiheit von gerade mal 15 cm eher lächerlich, „Beyond the limits“ mit der Mauer des Campingplatzes als Limit, „Freedomseeker“ (na, dann sollen sie mal suchen) oder etwa das Modell „Ultra Pathfinder“. Mit einer geschätzten Länge von 30 Metern und der Geländegängigkeit eines Trettrollers ist das eher Wunschdenken. Der Fahrer des sich „elegant“ vorgedrängelten Wohnmobiles (Aufdruck „Free as a bird“) lächelt uns mit einem Ausdruck von Mitleid („Mein Gott, mit so was Winzigem fahrt ihr rum, erbärmlich“) zu. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. So geschehen keine 30 Minuten später. Er, sicher stolzer Verfechter von Freiheit, wird von den netten Grenzbeamten an die Seite gebeten. In so ein großes Auto passt ja auch allerlei Schmuggelgut. Wir dagegen werden nach einem kurzen Frage-Antwort-Spiel auf Grund von Platzmangel (da steht ja Camper Joe mit seinem Ungetüm) einfach durchgewunken. Wir lächeln dem guten Mann freundlich zu und können aus den Augenwinkeln gerade noch sein von Ärger durchzogenes Gesicht erkennen.

Von der Grenze bis nach Seattle Downtown ist es nun nicht mehr weit, nach unserem moralischen Sieg über Camper Joe an der Grenze fahren wir wie beflügelt (fast wie „free as a bird“) die Strecke und sind voller Erwartungen. Wissen wir doch über die Stadt eigentlich nicht sehr viel mehr, als dass sich dort Tom Hanks und Meg Ryan 1994 ineinander verliebt haben.

Schlaflos in Duwamps, starring Seattle

Um es gleich vorweg zu nehmen: Seattle ist mehr als nur Tom Hanks, Meg Ryan oder, wie es auch oft genannt wird, ein Abklatsch von Vancouver. Ein Film mit dem Titel „Schlaflos in Duwamps“ wäre sicher nicht ein solcher Erfolg geworden. „Schlaflos in Seattle“ klingt da schon besser. Der schönere Name ist dem findigen Doc Maynard zu verdanken. Dieser kaufte 1853 dem Häuptling Sealth seinen Namen ab (für damals sagenhafte $ 16.500), anglifizierte diesen und Seattle war geboren. Seattle hat so einige Spitznamen: „Queen City“ (woher dieser Titel kam, ist samt Titel in den Sog der Vergessenheit geraten). „Emerald City“ (smaragdfarbene Stadt), da Seattle eine unglaublich grüne Stadt ist. Kein Wunder, ist sie ja auch noch „Rain City“. „Jet City“ wird Seattle auch genannt, ist sie doch Heimat des Luftfahrtgiganten Boeing.

Seattles Entstehung und Wachstum sind zwei sehr konträren Ereignissen zu verdanken. Zum einem dem großen Feuer von 1889, zum anderen dem Goldrausch am Klondike 1897 – 1899. Das Feuer von 1889 zerstörte fast das gesamte bis dahin wackelige und dreckige Seattle. Nach dem Brand entschieden die Stadtväter, Seattle wieder aufzubauen: größer, schöner, feuerfester und nicht mehr dem ewigen Hochwasser ausgeliefert. Hierzu wurden ganze Berge abgetragen, um das Ufer höher zu legen. Als 1897 der Raddampfer „Excelsior“ Seattle erreichte und deren Passagiere Gold in unermesslichen Mengen anlandeten, war der Goldrausch geboren. Seattle war der Ausgangshafen für die Reise der (meist erfolglosen) Goldsucher. Wie sagt man in Seattle so schön: nicht Gold macht einen reich, sondern das Geschäft mit den Goldsuchern. Wozu also so weit reisen. Die beiden Ereignisse hatten einen großen Einfluss auf die Stadt, und beider wird heute noch oft und feierlich gedacht.

Eigentlich hatten wir für Seattle zwei Tage vorgesehen. Unserem Reiseführer zufolge ist eigentlich schon der zweite Tag „nur für diejenigen, die wirklich alles sehen wollen“. Wir bleiben letztendlich sechs Tage, gibt es doch so, so viel zu machen.

Der Pike Place Market mit seinen „fliegenden“ Fischen (die Fische werfen sich die Händler gegenseitig zu), einem nicht enden wollenden Blumentisch, den Obst- und Gemüsehändlern ist wahrscheinlich die am meisten besuchte Sehenswürdigkeit der Stadt. Dieser enorme Besucherandrang hat zur Folge, dass leider viele der ehemaligen Marktstände verschwunden sind. Stattdessen finden sich jetzt jede Menge Hennatätowierer, T-Shirt-Händler, Rolex-Verkäufer („garantiert echt, Bruder“) oder alles, was den Touristen angeblich erfreut. Doch auch heute ist der Markt immer noch einen Besuch wert. In vielerlei Hinsicht ist es eine historische Stätte: 1971 wurde hier der erste Starbucks eröffnet. Interessant ist, dass der Name „Starbucks“ an den ersten Steuermann aus Melvilles „Mobby Dick“ angelehnt ist. Heute macht die „kleine“ Kaffeerösterei einen Umsatz von fast $ 10 Milliarden und hat ihren Stammsitz – natürlich – hier in Seattle.

Das Seattle Art Museum ist ein ganz wunderbares, weder zu trockenes noch einseitiges Museum: hier findet sich alles von Porzellan, Afrikakunst, Impressionisten über amerikanische Moderne bis hin zu den alten Griechen und Römern. Nun könnte man meinen, dass bei einem so breit gefächerten Angebot die Qualität eher mäßig ist. Falsch. Für uns ist es nach Wochen von Nordtannen, aus Granit geschnitzten Eisbären, bemalten Kanus und unzähligen Totempfählen ein echter Genuss. Wir saugen es auf wie ein trockener Schwamm, streifen ewig durch die Gänge, genießen die Farben und Formen und vergessen ganz die Zeit.

Der Olympic Sculpture Park, Seattles neueste Errungenschaft und Außenfläche des Seattle-Art Museums ist herrlich. Zwischen dem Wasser der Elliot Bay und modernen Gebäuden Seattles erstreckt sich der Skulpturengarten über eine Eisenbahntrasse und eine Autobahn den Berg hinauf. Der gesamte Park ist mit viel Grün und Platz angelegt; die Autobahn und die Bahntrasse sind nicht ausgesperrt, sondern in das architektonische Gesamtkonzept eingegliedert.

Überhaupt ist Seattle eine architektonisch besondere Stadt. Das gesamte Stadtbild scheint aufeinander abgestimmt; es wird sehr modern und frisch gebaut, Altes integriert anstatt planiert. Überall pulsiert das Leben, es gibt kaum „tote“ Ecken, allerorts grünt es. Auf uns machte es den Eindruck, als ob die Einwohner sehr stolz auf „ihre“ Stadt sind und gerne hier leben. Viele „Seattleraner“ sind aus so „großartigen“ Städten wie New York, San Franzisco oder Los Angeles zurückgekommen. Hier lebe es sich einfach besser, ist die einhellige Aussage. Langsam verstehen wir, was gemeint ist. Auch wenn es hier viel regnet, ist es doch eine Stadt mit enormer Lebensqualität. Haben wir dies ja schon über Vancouver gesagt, ist Seattle aber noch ein bisschen besser.

In Seattle regnet es durchschnittlich 914 mm im Jahr (im Vergleich New York: 1.524 mm). Der Unterschied ist, dass es in New York eine ca. drei-monatige „Regenzeit“ gibt; in Seattle ist die „Regenzeit“ so zwischen acht und neun Monaten. Das heißt, es regnet in Seattle eigentlich immer, halt nur recht leicht, ein bisschen wie Nieselregen à la London. Nun hat Seattle aber noch echt Glück gehabt: die Olympic Mountains, der Stadt auf einer Halbinsel vorgelagert, fängt die wirklichen Regenmassen ab. Dort ist es dann auch deutlich feuchter bei einem Jahresniederschlag von unglaublichen 3.606 mm!

Viele amerikanische Städte haben etwas fast schon nicht mehr schön zu nennendes Uramerikanisches. Über diese Städte, die dies nicht haben, wird dann gesagt, sie seien europäisch. Seattle ist weder uramerikanisch noch europäisch; es hat einen ganz eigenen Charakter, schwer zu definieren. Die Einstellung der Menschen ist in vielerlei Hinsicht anders: Essen hat in Seattle einen sehr hohen Stellenwert. Auch in den kleinsten Eckkneipen wird fast ausschließlich Frisches aus der Umgebung und dem Meer angeboten. Kettenrestaurants gibt es selbstverständlich auch, sie nehmen aber bei weitem keinen so hohen Stellenwert ein. Auch ist die Stadt ein klein wenig ruhiger, man nimmt sich Zeit. Sei es für einen kurzen Plausch, einen Kaffee oder einfach um innezuhalten, und die Schönheit der Umgebung bewusst wahrzunehmen und zu genießen.
Seattle und die nahe Umgebung haben unendlich viel zu bieten: Wassersport, Wandern, Radfahren etc. Die Möglichkeiten sind unendlich. Wie hörten wir einen Herren so passend sagen: „If you do not love an outdoor city, Seattle is the wrong place for you.”

1962 kam die Welt nach Seattle. Es war die Weltausstellung. Was für Paris der Eiffelturm, für Venedig die Rialtobrücke oder für New York das Empire State Building, ist für Seattle die Space Needel. Mit ihren fast 180 m Höhe war sie lange das höchste Gebäude der Stadt. Laut dem Architekten sollte die Space Needel das architektonische Vorbild für das 21. Jh. werden. Städteplanerisch ist es eher von Vorteil, dass dem nicht so ist, sind auf der 180 m Gebäudehöhe gerade mal drei Stockwerke (Aussichtsplattform, Drehrestaurant und Technikraum) untergebracht, was nun im Sinne der optimalen Raumnutzung nicht gerade richtungweisend ist. Beeindruckend ist sie dennoch und der Ausblick sensationell.

747, 767, 777, 787 und 00

In Everett, 60 km nördlich von Seattle, werden echte Giganten geboren. Die Jumbos, Boeings größtes Verkehrsflugzeug. Während einer 90-minütigen Tour ist es sogar möglich, diese Giganten der Lüfte in ihrer Entstehungsphase zu besichtigen. Um diese Flugzeuge zu bauen, bedarf es Platz, sehr, sehr viel Platz. Die Montagehalle, eigentlich sind es fünf, alle jedoch unter einem Dach, ist das mit Abstand größte Gebäude der Welt (in Bezug auf das Volumen) mit sagenhaften 1.2091.295 Kubikmetern. Sogar der Dreamliner, Boeings neuestes Flugzeug, wird dort montiert und kann dabei besichtigt werden. An Flughäfen wirken Flugzeuge immer gar nicht so groß, stehen sie ja in keiner Halle, so dass man oft keinen Vergleichsmoment hat. Hier, in dieser Halle, ist das anders. Techniker und Ingenieure laufen auf den Tragflächen herum, man sieht sie kaum. Ein Mensch neben einer Heckflosse einer 747 (Jumbo) ist in etwa so, als würde dieser neben einem sechsstöckigen (!!) Haus stehen würde. Die Dimensionen sind schier unglaublich. Leider darf man seit dem 11. September 2001 keine Fotos mehr machen, da Boeing Angst hat, man könnte mit einem elektrischen Gerät eine in die Halle geschmuggelte Bombe zum Explodieren bringen und somit die nationale Flugbereitschaft bzw. Fähigkeit zum Erliegen bringen. Boeing ist in Seattle allgegenwärtig. Immer fliegt irgendetwas über die Stadt, meist hat es irgendwelche komischen Formen oder Flügel, und ein bisschen scheint es wie in einem Science-Fiction-Roman.

Keine 20 km südlich von Seattle liegt das Flight Museum. Mehr als 50 originale Flugzeuge sind dort ausgestellt. Unter anderem findet sich eine Air France Concorde, die man sogar besichtigen kann. Das ist schon nicht schlecht, aber so richtig höher schlägt das Herz eines jeden Amerikaners erst an Bord einer ausrangierten „Air Force One“. Noch dazu, weil es die von JFK ist. An Bord gibt es dann kein Halten mehr. So nah war man der Macht noch nie. Und ein Klo zu sehen, in das sich schon JFK erleichtert hat, scheint die Massen zu elektrifizieren. Zugegebenermaßen, so ein Klo hätten wir schon auch gerne auf unserem nächsten Flug.

Wieder zurück in Seattle geht es weiter, diese faszinierende und schöne Stadt zu entdecken. Wir könnten hier noch ewig über das eine oder andere schreiben. Machen wir aber nicht, denn eigentlich bleibt nur eins übrig: mit eigenen Augen sehen. Wir hatten wenig erwartet, und es war von allen Städten in Nordamerika bisher die schönste. Auf unserer imaginären Liste der Orte, an welchen wir uns vorstellen könnten zu leben, gibt es einen Neuzugang: Seattle. Die Reihenfolge ist nun folgende: Key West, Seattle, Boston, Toronto und Philadelphia. Weiter geht die Reise, und die Liste wird sicher noch die eine oder andere Ergänzung bekommen……

Noch etwas für die Statistik: seit unserer Abfahrt am 15. April in Halifax haben wir fast 28.000 km zurückgelegt und dabei sagenhafte 6.344 l Diesel verblasen. Das entspricht einem durchschnittlichen Verbrauch von 22,66 l/100 km. Nicht schlecht für einen Laster, der fast 10 t wiegt.

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