Norwegen – Finnland

Im Norden Europas

25.09. – 14.10.2018

N 71° 10’ 15.64’’, O 25° 46’ 59.07’’. Der Wind pfeift. Er pfeift vom offenen Meer kommend über die Klippe. Eisig und heftig. Wir ziehen die Kapuzen tiefer und tiefer in die Gesichter, die eisige Kälte geht durch und durch. Aber egal, so was von egal! „Da“ hören wir oft, „ist es eigentlich total langweilig und völlig unspektakulär. Man steht mit Menschenmassen lediglich im Nebel. “Nebel? Fehlanzeige. Langweile? Ja sowas von nicht! Unspektakulär? Keineswegs! Menschenmassen? Ja, wenn fünf Menschen schon Massen sind, dann ja! Mit klammen Fingern halten wir zitternd die Fotoapparate in den Wind und schon ist es im Kasten. Das Nordkap, die (fast) nördlichsten Spitze Europas.

Aber bis hierher war es ein langer und schöner Weg. Das riesige Russland mit seinen Schätzen, Sümpfen und Sibirien liegt hinter uns. Ein paar Kilometer südöstlich vom norwegischen Städtchen Kirkenes stehen wir an der Grenze. Raus aus Russland, rein nach Norwegen. Klingt simpel, dauert ewig. Der sehr junge und sehr motivierte russische Zöllner nimmt es sehr genau. Mit seinem Stöckchen in der Hand zeigt auf jeden Winkel, jede Schublade und jede Kiste und faucht grimmig „open!“. Kaum offen, durchwühlt er alles, immer auf der Suche. Wonach? Wir wissen es nicht. Nur mit Mühe und viel gequältem Lächeln gelingt es uns, ihn davon abzuhalten die 160 Kilogram schweren Schneeketten auch noch auspacken zu müssen. Dafür, quasi zur Strafe, will er, von einem Podest aus thronend, ganz genau in die Ersatzteilkiste auf dem Fahrerhausdach schauen. Wieder nix. Irgendwann gibt der Grenzbeamte auf, missmutig und enttäuscht zieht er von dannen.

Es ist nur ein weißer Strich auf dem Teer, aber hier treffen Welten aufeinander. Auf der einen Seite Russland, auf der anderen Seite Norwegen, die EU. Wir zeigen unseren Personalausweis, kein Stempel, kein nichts. Schwupsdiwups sind wir drinnen. Alles wirkt auf fast befremdliche Weise so ordentlich, so sauber, so aufgeräumt. So akkurat. Nach all den Monaten von mehr oder weniger geordnetem Chaos in den verschiedensten Ländern erscheint es uns wie ein Quantensprung in eine andere Galaxie.

Seit Ewigkeiten stehen wir mal wieder auf einem sogenannten „Stellplatz“: Eben, gleichmäßig, beleuchtet, sauber. Ein Schlauch für Frischwasser (Trinkwasser natürlich), eine silberne Säule für die Entsorgung der Chemietoilette, selbstverständlich mit Handwaschbecken und Seife. Daneben ein in den Boden eingelassenes Gitter für die Grauwasserentsorgung. Ein ganz normaler (europäischer) Stellplatz eben. Uff. Sowas haben wir lange nicht mehr gesehen.

Wir bummeln bei traumhaftem Sonnenschein durch das sympathische, wenn auch schon komplett im Winterschlaf befindliche Kirkenes und verlieren uns vollkommen im lokalen Supermarkt. Nach all den Bazaren, Strassenständen, Mini-Märkten und fliegenden Händlern fühlt es sich an wie eine Reise durchs Schlaraffenland. Ok, in Russland gab es auch schöne Supermärkte, aber verstand haben wir halt nichts, das war eher kaufen nach Bildern. Aber das hier ist, ja der Wahnsinn: Spanischer Schinken, schweizer Käse, deutsche Würstchen, norwegisches Schwarzbrot (kross und nicht lommelig), Obst und Gemüse in einer Auswahl, da ist das Einkaufskörbchen schnell voll.

Über wunderbar kleine, aber „selbstverständlich“ perfekte Straßen fahren wir von Fjord zu Fjord, vorbei kleinen Örtchen, einsam gelegenen Gehöften, und schier unzähligen roten Norwegerhütten weiter nach Nordwesten. Traumhaftes Herbstwetter lässt das Meer in satten Blautönen glänzen, die wenigen Bäume lassen ihr letztes herbstliches Blättergewand im Wind flattern, die Landschaft ist nordisch-rau, subpolar und faszinierend. Und überall Meer und noch mehr Meer. Es gibt wenige Orte auf der Welt, die derart weit vom Meer entfernt sind wie die von uns gerade bereisten Länder in Zentral-Asien. Nach so viel Bergen, Sand und Staub ist es ein unbeschreibliches Gefühl, endlich wieder am Meer zu sein, die Salzluft einzuatmen, Möwen schreien zu hören – ganz zu schweigen vom wunderbare Geräusch der sanft rollender Brandung.

Je weiter wir nach Norden kommen, umso spektakulärer windet sich die Straße am Wasser, an steilen Klippen entlang, über kleine Dämme, hohe Brücken und durch tiefe Tunnel. Wir folgen einigen steilen Serpentinen, fahren durch baumlose Hochebenen und dann sind wir endlich da: am Nordkap.

Wie oft haben wir gesagt: also, dann fahren wir von München in die Mongolei und von dort aus ans Nordkap. Tja, und jetzt sind wir wirklich und tatsächlich hier. Irgendwie krass!

Das ist jetzt schon ein tolles Gefühl. Und was für ein Ausblick! Wie war das doch gleich? Nordkap: Nebel, Menschenmassen, unspektakulär? Pustekuchen, man muss halt nur zur rechten Jahreszeit kommen, wenn es derart windig und kalt ist, dass die Massen lieber daheim am Ofen sitzen und Weihnachtssterne basteln. Wir finden’s klasse! Ok, wir lieben ja auch geografische Punkte, und dieser hier gehörte eindeutig zu den Top 10 unserer Liste der geografischen Punkte, die wir gerne alle besuchen wollen. Abgesehen von den täglich hier anzutreffenden Hurtigruten-Reisenden, die per Bus zum Nordkap gekarrt werden, haben wir Glück. Die Reisebusgruppe verschwindet schnell wieder – erst im warmen Museum, dann im warmen Bus. Und wir haben das Kap, die berühmte Weltkugel und alles andere drumherum so gut wie für uns alleine!

Und noch mal: das Nordkap ist nicht langweilig. Es ist ein besonderer Ort. Ein Sehnsuchtsort? Vielleicht. Nebel? Ein bisschen, aber der Wind bläst ihn schnell weg und dann auch wieder schnell her. Wir erleben hier eine beeindruckende Mischung aus dicken,tiefhängenden und in allen Schattierungen grauen Wolken, strahlend blauem Himmel, Graupelschauer, Schneesturm und Sonnenschein. Nur kalt ist’s. Saukalt. Kein Wunder, wir sind ja hier auch fast am Nordpol…

Eigentlich wollten wir hier oben übernachten – wie cool wäre das denn! – aber egal, wo wir Aloisius auch hinstellen, immer wieder wird er von starken Böen durchgeschüttelt, es wackelt wie auf dem Rücken eines dreibeinigen Pferdes im Galopp. Ein paar Kilometer südlich, in einer geschützten Bucht am malerischen Hafen des angeblich nördlichsten Fischerdorfes der Welt (hier oben hat fast alles das Attribut „nördlichstes Was-auch-immer“) finden wir einen herrlichen Platz. – viel schöner hätte es kaum sein können.

Am nächsten Morgen liegt Schnee auf Aloisius’ Dach. Nicht viel, aber immerhin, der erste Schnee in diesem Herbst. Auch die umliegenden Hügel sind leicht mit Schnee überdeckt. Die Sonne strahlt, es ist eine tolle Stimmung. Als wir den Motor starten, kommt uns ein Einheimischer entgegen, weist uns sehr nett und freundlich darauf hin, dass die Straßen schneebedeckt beziehnungsweise glatt sein könnten, wir sollten also bitte vorsichtig fahren. Wir bedanken uns. Wir sehen zwar hier im Ort kein Schnee auf der Straße, aber wer weiß, was noch kommt…

Und es kommt. Dicke.  Auf der Strasse liegen ein paar Zentimeter Schnee. Kein Problem, aber darunter versteckt sich eine spiegelglatt Eisfläche. Eben doch Problem. Das Schild zeigt in einer geneigten Linkskurve ein 9%-Gefälle an, wir rollen langsam, stehen schon fast, da fängt Aloisius plötzlich längs zur Fahrtrichtung an zu rutschen. Nicht gut! Links neben der Strasse geht es in einen etwa zwei Meter tiefen Graben. Da kippen wir um! Angstschweiß! Rechts geht es bergab ins Tal, aber zwischen Tal und uns steht eine solide Leitplanke. Lieber in die scheppern, als links im Graben umkippen. Ein paar Mal beherzt auf’s Gas treten, Schub nach vorne und wir schlittern endlich auf die Leitplanke zu. Die wird uns schon aushalten, oder? Und, oh ja, da ist ein kleiner Streifen grober Teer, ein bisschen Schotter, beides nicht vom Schnee bedeckt. Das könnte bremsen. Wir müssen es nur in einem flachen Winkel treffen. Das tun wir. Aloisius steht! Die Leitplanke bleibt heil, Aloisius auch, wir holen tief Luft. Vor uns schlittern noch ein paar Autos kreuz und quer über die Strasse, bei keinem passiert etwas, aber so wissen wir wenigstens, nicht die einzigen „Volltrottel“ am Hang zu sein. Nur die Einheimischen, die fegen den Berg rauf und runter – nicht verwunderlich, mit Spikes in den Reifen.

Wir sichern Aloisius von weiterem Abrutschen, indem wir losen Kies vom Seitenrand der Straße kratzen und an die Reifen schaufeln. Die Straße ist spiegelglatt. Wäre die Situation nicht so ernst, man könnte richtig Spaß haben. Die Sonne scheint, wir warten. Langsam, sehr langsam schmelzen Schnee und Eis an einigen Stellen. Dann warten wir eben, so ist unser Plan, der jedoch bald durchkreuzt wird von einem heftigen Schneesturm, der aufzieht. Die Sonne verschwindet, eisiger Wind kommt auf, das, was gerade getaut war, wird jetzt wieder zur spiegelglatten Fläche. Super!

So kommen wir weder vor, noch zurück. Hier, mitten in der Kurve und mit dem Heck fast mitten auf der Straße stehen wir auch nicht gerade günstig. Wir rufen also im Tourismusbüro von Henningsvag an, schildern unsere Situation. Eine halbe Stunde später erscheint ein Auto vom Straßenamt, begutachtet die Situation und sieht schnell ein: hier muss der Streudienst her. Kein Stunde später ist er da: ein Radlader, voll beladen mit Streukies in seiner Schaufel.

So fahren wir dem streuenden Radlader hinterher ins Tal und sind froh, es nach ein paar Kilometern geschafft zu haben. Ein privater Räum- und Streudienst – auch mal ne schöne Sache. Unten im Tal angekommen, liegt kein Flöckchen Schnee. Wir bedanken uns bei der netten Dame von der Touristeninformation für ihre Hilfe. Dass der Winter uns hier so früh ereilt, hätten wir nicht gedacht. Wie wir später jedoch erfahren, waren wir nicht die einzigen Reisenden, die davon überrascht wurden.

Wie gut, dass es von nun an nach Süden geht. Doch zuvor machen wir noch einen kleinen Abstecher, wir wollen in die (angeblich) nördlichste Stadt Europas. Nach Hammerfest. Auch wenn hier oben, wie gesagt, irgendwie alles das „nördlichste“ ist, so liegt Hammerfest für eine Stadt doch schon sehr weit im Norden!

Das Städtchen Hammerfest hat den Eisbären fest in sein Marketingkonzept integriert (angeblich wurde 1970 in der Nähe mal einer gesichtet – wer’s glaubt!). Wo sonst gäbe es „The Royal and Ancient Polar Bear Society“? Wir werden natürlich sofort Mitglied in diesem exklusiven Club, erhalten einen Eisbären-Pin, eine Urkunde, einen Mitgliedsausweis, einen besonderen Aufkleber und sind ab sofort zur jährlich in Hammerfest stattfindenden Jahresmitgliederversammlung im Januar eingeladen. Ob da viele kommen, fragen wir. Ein paar schon, ist die Antwort. Was auch immer das heißen mag…

Ende September ist hier auf jeden Fall nicht mehr viel los. Wir sind so ziemlich die einzigen Touristen – abgesehen eben vom täglichen Hurtigruten-Schiff, dass in Hammerfest für ein paar Stunden angelegt. Die Stadt liegt toll. Am Wasser, in der Natur, ab vom Schuss. Sie ist überschaubar, nicht wirklich schön, aber irgendwie sympathisch. Vielleicht liegt’s an unserem tollen Schlafplatz (direkt am Wasser, mit Blick über die gesamte Bucht, auf den Hafen und die davor gelegenen Inseln), auf jeden Fall fühlen wir uns hier sauwohl. Die Menschen sind zurückhaltend, aber sehr nett und sehr freundlich. „Ich habe in so vielen Metropolen dieser Erde gelebt“ berichtet uns ein Deutscher, der seit einigen Jahren hier lebt und arbeitet. „Hier oben fühle ich mich wohl und angekommen; hier ist alles ruhig und überschaubar.“ Wow, das muss man können, hier oben, denken wir zuerst. Nach ein paar Tagen können wir ihn irgendwie verstehen: das hier oben hat etwas erstaunlich beruhigendes und angenehmes!

Doch um sich niederzulassen ist es noch zu früh. Aloisius will rollen und auch wir haben noch ein bisschen was vor uns. Nach wenigen Tagen erreichen wir die Grenze zu Finnland, die ja eigentlich keine mehr ist. Trotzdem schlürft eine gelangweilte Zöllnerin aus dem Häuschen, fragt wo wir herkämen, „Norwegen“ sagen wir und werden durchgewunken. Auch wenn es schön schnell geht, ein bisschen fad sind solche Grenzen dann schon auch. Nicht mal einen Stempel bekommen wir in den Pass…

Ein großes Schild an der Grenze begrüßt uns und heißt uns willkommen in Suomi und Lappland. Lappland, da denkt man an den Weihnachtsmann und rotnasige Rentiere. Beides sehen wir nicht. Dafür aber Wald, Wald und noch mal Wald. Auf der Landkarte schaut das prima aus: unheimlich viel Grün und dazwischen viele blaue Punkte. Seen. Nur verstecken sich die Seen alle derart tief im Wald, dass das Antreffen eines solchen schon fast ein Grund zum Jubeln ist.

Die Natur auf jeden Fall ist größtenteils unberührt (von der Forstwirtschaft mal abgesehen), viele Nationalparks warten darauf erkundet zu werden. Bei teils klirrender Kälte unternehmen wir ein paar wirklich schöne Wanderungen auf und über kleine Fjäls (Hügel) und manchmal sogar vorbei an kristallklaren Seen.

Wir finden tolle Schlafplätze mitten in dichten Wald, an schon zugefrorenen Seen oder kleinen Häfen, wo die Menschen emsig damit beschäftigt sind, die letzten Boote aus dem Wasser zu holen und für den Winter einzulagern. Viel ist nicht mehr los, wir sind überall so gut wie alleine.

Von Norden kommend nähern wir uns dem Polarkreis, hier wohne der Weihnachtsmann, sagt man. Kurz vor Rovaniemi, im Wald natürlich. Und was haben wir jetzt erwartet: Weihnachtsmann-Merchandising bis zum Umfallen mit Kunstschnee und allem was dazugehört. In Wirklichkeit ist das „Weihnachtsmanndorf“ ein baufälliges und runtergekommenes Outlet-Shopping, derart trostlos, dass es seinegleichen sucht.

Nach Überqueren des Polarkreises steht die Sonne steht langsam wieder steiler am Himmel. Obwohl doch recht weit südlich, erleben wir noch einmal wunderschöne Nordlichter. Sie bleiben nicht lange, funkeln grün, verändern sich schnell, da kann man einfach nur gucken und staunen. Sie sind derart beeindruckend, dass wir am liebsten sofort wieder nach Norden fahren würden, die Nordlicht-Saison beginnt ja jetzt. Also gleich auf die Liste: „Nordskandinavien im Winter zum Nordlichter gucken“. Anmerkung: „Winterreifen nicht vergessen!“

Langsam arbeiten wir uns nach Süden vor, stoßen am Bottnischen Meerbusen auf die Ostsee, wo wir einen kurzen Abstecher nach Schweden einlegen. In Haparanda, direkt auf der anderen Seite der Grenze, befindet sich der nördlichste Ikea der Welt – passt doch wunderbar in unsere Liste der Superlative, oder? Im großen Möbelhaus essen wir also dann die nördlichsten IKEA-Kotböller der Welt. Lecker!

Nach zwei Tagen Stippvisite in Schweden geht es wieder zurück nach Finnland. Die meisten Orte entlang der Küste sind unspektakulär und nicht erwähnenswert. Ausnahmen sind einzig Jakobstad und Rauma, die mit ihrer typischen, gemütlich wirkenden Holzhausarchitektur einen charmanten Reiz ausstrahlen. Die Häuschen sind meist klein und niedrig, farbenfroh gestrichen und irgendwie eine bisschen verwunschen.

Am südlichen Zipfel von Finnland liegt Helsinki. Ach was freuen wir uns. Skandinavische Großstadt, cooles Design, nordischer Charme – so steht es im Reiseführer. Dichter Nebel hängt tief in den Straßenzügen, die in unseren Augen wenig aufregende Stadt gewinnt somit nicht gerade. Helsinki ist weder quirlig, noch lebhaft oder gar sympathisch. Die Menschen sind, ganz nach finnischer Art, verschlossen, reserviert, wortkarg. Ins Gespräch mit ihnen zu kommen ist schwierig, ihnen ein Lächeln zu entlocken unmöglich.

Für uns wirkt Finnland, nach all den impulsiven und lauten Ländern der letzten Monate irgendwie unnahbar. Ein bisschen monoton und trüb. Schade. Tschüss Finnland!

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